GOTTFRIED BENN, O, Nacht – und OTTO DIX, Porträt der Journalistin Sylvia von Harden,

O, NACHT –

O, Nacht! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das Haar wird grau, die Jahre flieh’n.
Ich muß, ich muß im Überschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn.

O, Nacht! Ich will ja nicht so viel.
Ein kleines Stück Zusammenballung,
Ein Abendnebel, eine Wallung
Von Raumverdrang, von Ichgefühl.

Tastkörperchen, Rotzellensaum
Ein Hin und Her, und mit Gerüchen;
Zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen –:
Zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.

Die Steine flügeln an die Erde.
Nach kleinen Schatten schnappt der Fisch.
Nur tückisch durch das Ding-Gewerde
Taumelt der Schädel-Flederwisch.

O, Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein kleines Stück nur, eine Spange
Von Ichgefühl – im Überschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn!

O, Nacht, o leih mir Stirn und Haar,
Verfließ Dich um das Tag-verblühte!
Sei, die mich aus der Nervenmythe
Zu Kelch und Krone heimgebar.

O, still! Ich spüre kleines Rammeln:
Es sternt mich an – Es ist kein Spott –:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott,
Sich groß um einen Donner sammeln.

In Benns Gedicht kommt das Verlangen, der körperlichen und geistigen Vergängnis zu entkommen, in Form eines Monologs zur Sprache. Für mich drückt dieses Gedicht am deutlichsten die Zeit der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts aus, in der sich viele neue Strömungen auf eine Neuerschaffung von Kunst, Kultur und somit auch Lebensstil im Allgemeinen befassten.

Es ist die junge Generation, die die Welt verbessern will. Eine Generation nach dem Ersten Weltkrieg, die das Leid des Krieges miterlebt hat und die ihr Leben genießen will, – vielleicht auch um sich abzulenken von Problemen und Traumata der Vergangenheit. Es wird gefeiert und keine Möglichkeit das eigene Leben bis an die Grenzen auszuloten wird ausgelassen. Auf der Suche nach dem „neuen Sinn“ im Lebens werden alle Mittel getestet: Alkohol (z.B.: Absinth) und Drogen wie Dope, Opium und Kokain sind besonders in Künstlerkreisen weit verbreitet. Jugendstil, Reformbewegung, Bauhaus, Blauer Reiter und die Brücke sowie die Existenzialisten in der Philosophie prägen das Bild der jungen Generation in der Gesellschaft.

Doch wie sollen diese Künstler altern? Jene, die ihr Leben für den Fortschritt und für etwas Junges und Neues gekämpft haben, wie sollen sie sich selbst im Alter begegnen können, wenn das, was sie jetzt sind, und das, was sie einst waren, sich so sehr widerspricht? Es ist das kleine Stück von Ichgefühl, was fehlt. Wenn der Generationen-Konflikt sich auf ihre eigenen Kinder überträgt?

Noch einmal vor Vergängnis blühen, – eine Zeile, die zuerst den körperlichen Verfall anspricht, jedoch ist es auch ein Verfall des Geistes. Vergängnis wird nicht akzeptiert. Sobald die Blütezeit vorüber

ist – folgt dann sogleich das Dahinwesen?! Sexualität muss von einem Tag auf den anderen verleugnet werden. Die einstige Freizügigkeit ist gestorben, – das Leben trostlos und ohne jede Art von Genuss und Lust.

Doch wie kann nach einem Streben nach Immanenz und Transzendenz alles durch eine Identitätskrise zunichte gemacht werden?

Ist dieses Gedicht ein Hilferuf oder eine Kritik an der damaligen Gesellschaft?

Als Mediziner, Theologe und Philosophiestudent hatte Benn wahrscheinlich mehr Gelegenheit als andere sich mit Vergängnis, Leiden, Drogen und Tod auseinanderzusetzten. Gedichte wie „Kleine Aster“ oder „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ beschreiben dies sehr lebendig.

Die Frage nach Ewigem und Vergängnis wird wohl eine bestehende bleiben, aber dies kann jeder für sich ändern; in Benns Gedicht geht diese Auseinandersetzung (zumindest am Schluss) gut aus.