Eine umfassende Darstellung von Leben und Werk des bedeutenden Frühexpressionisten Georg Heym (1887–1912) war schon lange überfällig. Nina Schneider schließt mit dem großzügig bebilderten Band „Am Ufer des blauen Tags“ diese Lücke.
Georg Heym entstammte einer Familie des protestantischen Großbürgertums, in der er als »interessanter Vetter« und »schwarzes Schaf« gleichermaßen auffiel. Heyms Verhältnis zu seinem Vater, dem Geheimrat und Militärreichsanwalt Hermann Heym, war schwierig, wenngleich der Vater bemüht war, seinem Sohn, der sich zu keinem Beruf geschaffen fühlte, gerecht zu werden.
Heyms schulische Leistungen entsprachen nicht den Erwartungen der »Pauker« (»Steif wie ein Ladestock«): »Um Gotteswillen nicht sich erlauben, productiv zu sein. Da sind wir ja noch zu unreif. Dieser Herr ist so ganz nach dem Sinne meines Vaters, der ja auch nur aus Haut und Knochen besteht: Poesie, Kunst u.s.w. sind unpraktisch und überflüssiger Luxus. Wenn ich konsequent wäre, müßte ich mir eigentlich das Leben nehmen. Aber ich glaube an mich«, notierte der Siebzehnjährige im Tagebuch. Nachdem er ein schuleigenes Ruderboot in Brand gesteckt hatte, mußte Heym die Schule wechseln, »in die Verbannung […] Ich nehme mir vor, in Neu-Ruppin als krasser Pessimist aufzutreten.« Verbote der ihm verhaßten Schule umging er stets: Heym gründete eine Schülerverbindung, die »Rhinania«, und suchte bis nach Mitternacht (silentium war schon um neun Uhr gewesen) den Schülern verbotene Schenken auf – dafür gab’s Arrest. So hieß es denn auch im Reifezeugnis: »Nicht unbegabt, aber zerfahren und durch Allotria abgelenkt.« Zum Abschied krönte Heym die Germania eines vor dem Schulgebäude stehenden Kriegerdenkmales mit der Primanermütze und notierte im Tagebuch: »F r e i«.
Georg Heym, der den einen Tag Kürassierleutnant, den andern Tag Terrorist werden wollte, nahm schließlich im Frühjahr 1907 das Jurastudium auf, »wo ich doch niemals ein stumpfsinniger Jurist werden« wollte. Er gehörte der schlagenden Verbindung »Corps Rhenania« an, ohne allerdings dem Corpsleben viel abgewinnen zu können.
Heym hatte als Schüler schon zahlreiche Gedichte verfaßt, sie einmal auch dem hernach verabscheuten Schuldirektor vorgelegt. Als Student nun veröffentlichte er ein Trauerspiel, »Die Athener Ausfahrt«. Heym verliebte sich. Geldmangel wohl ließ die Heirat Plan bleiben. Mit dem Studienortwechsel nach Berlin trennte er sich von Hedy Weißenfels. Später notierte er: »Ich bin der größte Narr gewesen, daß ich Hedy habe laufen lassen.«
Die Juristerei war ihm weiterhin zuwider: man »müßte […] doch zuerst die ganzen verstaubten Juristen selber an einen Galgen hängen«. Heym lebte in einem ständigen Aneinandergeraten zweier Welten, jener der Literatur und jener des »staubigen Mauselochs« der Paragraphen. »Ich lebe nur noch aus einem dunklen Wunsche heraus, daß es vielleicht einmal besser wird, vielleicht, aber wie lange muß ich noch warten?«
Im Berliner »Neuen Club« las Heym das erste Mal öffentlich seine Gedichte vor. Einer der Zuhörer, Ernst Blass, erinnert sich: »Da saß er mit uns am Tisch und las von den geschriebenen Seiten jene grandiose
Poesie ab, die […] organisch und mehr als organisch ihre nicht mehr zu diskutierende oder zu diagnostizierende Gestalt annahmen.« Unter den von Heym gelesenen Gedichten war auch das Sonett »Berlin I«: »Der hohe Straßenrand, auf dem wir lagen, / War weiß von Staub…« Noch vor der Lesung hatte Heym im Überschwang der Vorfreude selbst eine Rezension des Abends verfaßt, die er verschiedenen Zeitungen – ohne Verfasserangabe, versteht sich – anbot: »Ein mir bis heute unbekanntes, aber offenbar starkes Talent scheint Georg Heym zu sein, der in den vorgetragenen Gedichten große klar geschaute Visionen gestaltet«, die Besprechung gipfelte im Fazit: »Alles in allem waren die Gedichte Georg Heyms die besten, die ich an dem Abend hörte.« Die Zeitungen waren einem Abdruck nicht zugeneigt. Richard A. Bermann, von Heym hernach als »armselige Kellerassel der Litteratur« betitelt, konnte es sich nicht verkneifen, in einem Artikel anzumerken: »ich habe ihm heilig schwören müssen, seinen Namen in diesen Spalten zu erwähnen; also er heißt Georg Heym; sein Nachruhm sei hiermit begründet.«
Auch las Heym bei den folgenden Abenden des »Neopathetischen Cabarets«, und er erwarb sich rasch einen vorzüglichen Ruf als wortgewaltiger Künder des Neuen in der Welt des Zerfalls.
Ein Mitglied des Neuen Clubs, Heinrich Eduard Jacob, selbst Novellendichter, versuchte Heym zu einem Druck seiner Gedichte zu verhelfen, was ihm schließlich im Charlottenburger Lokalblatt »Herold« gelang. Nachdem der 23jährige Jungverleger Ernst Rowohlt Heyms Gedichte in der Zeitung gelesen hatte, bemühte er sich um einen Vertrag mit dem Dichter. Bei ihm erschien dann auch 1911 Heyms erster Lyrikband »Der ewige Tag«.
Georg Heym war ja immer noch Student. Die Welt der Gesetze war aber nach wie vor seine Sache nicht: die schriftliche Examensarbeit verfertigte Heym mit Hilfe befreundeter Rechtsgelehrter, bei der Klausur wurden ihm die fertigen Ausarbeitungen zugesteckt, und die mündliche Prüfung verlief kurios kurz. Aber er hatte sie bestanden, und die Feier endete mit dem Verbrennen der Lehrbücher. Alsbald wurde Heym Kammergerichtsreferendar. Um sich einer leidigen Akte zu entledigen, steckte Heym diese kurzerhand in die königlich-kammergerichtliche Toilette; die Wasserspülung war daraufhin defekt, Installateure fanden die Ursache – und Heym wurde nach Wusterhausen versetzt.
In einer Kritik Hans von Webers im Zwiebelfisch hieß es: »Er kann alles das, was die anderen auch können, nur stellenweis noch ein gutes Stück mehr. An der Stelle jedoch, wo bei unsren deutschen Dichterjünglingen sonst nur die bekannte schöne Seele sitzt, da hält Georg Heym einen grinsenden Dämon an der Kette; und Blut und Feuer spritzt er, wo sonst nur eitel Milch und Honig quillt.«
Von der Juristerei – inzwischen war er zum Dr.iur. promoviert worden – hatte Heym nun endgültig genug. So schrieb er sich in Berlin für das Studium orientalischer Sprachen ein und bewarb sich im Herbst 1911 beim Feldartillerieregiment Nr. 72 in Marienwerder als Fahnenjunker. Die Nachricht des Erfolges seiner Bewerbung traf erst nach seinem Tode ein..
Am 16. Januar 1912 war Georg Heym zusammen mit einem Freund, dem Dichter Ernst Balcke, auf die vereiste Havel zum Schlittschuhlaufen gegangen. Beim Versuch, den in ein Eisloch gefallenen Freund zu retten, stürzte auch Heym in das eisige Wasser. Die Wunden an seinen Händen lassen vermuten, daß er noch versuchte, sich aus dem Eiswasser herauszuziehen. Waldarbeiter hörten die Hilfeschreie, konnten aber keinen der beiden retten. Vier Tage später wurde Heyms Leiche geborgen, am 6. Februar erst die seines Freundes Ernst Balcke.
Im Sommer 1912 erschienen postum ausgewählte Gedichte aus dem Nachlaß unter dem Titel »Umbra vitae« bei Rowohlt, Novellen und andere Dichtungen folgten. Der zu Lebzeiten oftmals unverstandene Heym wurde zum Klassiker, er wurde »kanonisiert«. Der Bruder des mit ihm Ertrunkenen, Rudolf Balcke, in einem Rückblick: »Ich glaube, sein früher Tod hat ihn vor schweren Enttäuschungen, vielleicht geistiger Zerrüttung bewahrt.«
»Ein Falter kommt die Schlucht herab. Er ruht / Auf Blumen. Und er senkt sich müd / Der Wunde zu, dem großen Kelch von Blut, / Der wie die Sammet-rose dunkel glüht«, hatte Heym in einem Gedicht geschrieben. Ein »Pfeil zum Übermenschen« wollte er sein.