Ob Becher, Hesse, Hoddis, Heym oder Mühsam – alle liebten Emmy Hennings, eine der schillerndsten Frauenfiguren der Moderne
Von Irene Stratenwerth
Wer war Emmy Hennings? Fotos aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zeigen sie als schwärmerisch naive, als frivol posierende oder als abgemagerte und verhärmte junge Frau. Ihre Tagebücher, Romane, Gedichte und Briefe erzählen vom Leben als Tingel-Tangel-Girl, als Dichterin, Prostituierte, Drogensüchtige und überzeugte Katholikin. Für Erich Mühsam war sie Objekt sexueller Begierde, für Johannes R. Becher die heißblütig verehrte Geliebte, für Hermann Hesse eine respektierte Kollegin. Die Texte und Dokumente über das Leben der Emmy Hennings, die jetzt im Rahmen einer Ausstellung und eines Katalogbuches erstmals veröffentlicht werden, ergeben einen facettenreichen Bilderbogen der Sozial- und Sittengeschichte der frühen Berliner und Münchner Boheme. Die Rätsel, die eine der schillernsten Frauenfiguren der Moderne aufgibt, lösen sie nicht.
Der Ausbruch aus dem kleinbürgerlich-proletarischen Milieu in Flensburg, in das sie 1885 hineingeboren wird, vollzieht sich noch fast ohne ihr Zutun. Der erste Ehemann, Laienschauspieler wie sie, scheint die »Weglaufsucht«“ seiner jungen Frau zu ahnen: Er findet für beide ein Engagement bei einer Wandertheatertruppe und macht sich dann wortlos davon. Die zwanzig Jahre alte Emmy zieht mit dem Schmierentheater weiter, bald bis nach Osteuropa. Eine Tochter kommt unterwegs zur Welt, wird bei der Großmutter in Flensburg abgegeben. Emmy kämpft ums Überleben. Wie viele ihrer Kolleginnen bessert sie ihren Schmierentheaterlohn auf dem Straßenstrich auf. Sie hat keine Chance, diesem Milieu zu entkommen. Und wirft alles in die Waagschale, was sie hat: Sich selbst, mit Haut und Haaren.
In Hannover lernt sie John Höxter kennen, den bekennenden Homosexuellen, Maler und Morphinisten, der zum beständigen Inventar des Berliner Café des Westens gehört. Dort, im sogenannten »Café Größenwahn« sieht man ab 1910 auch Emmy Hennings unter den gebildeten Söhnen der Bourgeoisie sitzen. Gelangweilt und zugleich höchst erregt warten sie auf die Entdeckung ihres literarischen Talents oder jedenfalls auf den Weltuntergang. Daß die Volkschülerin aus Flensburg nicht nur ein »erotisches Genie« ist, wie Erich Mühsam vermerkt, sondern auch eine begabte Schriftstellerin, erkennt zunächst vielleicht nur eine: Else Lasker-Schüler, damals schon erfolgreiche Lyrikerin, pflegt bald eine hysterische Feindschaft gegen die 15 Jahre jüngere Kollegin.
In den Hackeschen Höfen gründen die studentischen Denker und Literaten 1909 ihren »Neuen Club«, der nun regelmäßig zum »Neopathetischen Cabaret« lädt. Zu ihnen gehört Jakob van Hoddis, der mit seinem »Weltende« die Hymne der Neopathetiker schreibt und das wahrscheinlich erste expressionistische Gedicht. Emmy Hennings liebt er »ganz still und wirklich«, sie wird vielleicht die einzige wahre Freundin seines Lebens. Auch Georg Heym kommt sie ziemlich nahe. Der Senkrechtstarter unter den jungen Expressionisten, der schon 1910 von Ernst Rowohlt entdeckt wird, ist für seine impulsive und poltrige Art bekannt. Was Emmy mit ihm erlebt, schildert sie später seinem Herausgeber Carl Seelig: »Er konnte sich von einer Sanftmut zeigen, die wie tiefe Schwermut auf seinem Gesicht lag, doch werde ich Ihnen nicht die Gelegenheit zu erzählen brauchen, bei der ich es sah.«
Die exzessive Lebenssucht der Neopathetiker, das spürt Emmy Hennings wohl mehr als andere, ist nur die lärmende Maskerade einer verzweifelten Ahnung, daß diese Generation keine Zukunft hat. Georg Heym ertrinkt 1912 beim Eislaufen im Wannsee, viele seiner Freunde sterben wenig später als Soldaten im Ersten Weltkrieg. Und Jakob van Hoddis wird geisteskrank.
Vorerst aber schwappt die Szene noch von Berlin nach München und wieder zurück. Emmy ist stets mittendrin. »Das arme Mädchen kriegt viel zu wenig Schlaf. Alle wollen mit ihr schlafen, und da sie sehr gefällig ist, kommt sie nie zur Ruhe«, klagt Erich Mühsam 1911 seinem Tagebuch. Er selbst ist durch einen Tripper vorübergehend verhindert, betätigt sich aber als Protokollant der zahlreichen Henningschen Schäferstündchen. Der Reichstagsstenograf und Journalist Ferdinand Hardekopf, eine große Liebe und zeitweise Zuhälter der Hennings, hat ihm die Freundin ein halbes Jahr davor zur Übernahme angeboten, als ihm die Behandlungskosten ihrer Typhuserkrankung über den Kopf wuchsen. Doch es gibt noch andere Bewerber: Etwa den späteren DDR-Kultusminister Johannes R. Becher. Als halbwüchsiger Gymnasiast wollte er gemeinsam mit seiner Geliebten aus dem Leben scheiden, überlebte jedoch allein. Jetzt verfällt er Emmy. Noch 1921 schreibt er ihr glühende Briefe: »Ich muß es dir wieder sagen, daß du schön bist und daß alles andächtig ist und entzündet, wenn ich an dich denke.«
Becher und Hennings verbindet nicht nur Liebe sondern auch Sucht. Ihr Rauschgift heißt erst Äther, dann Morphium, und damit sind sie nicht allein. »Wir warten auf ein letztes Abenteuer/Was kümmert uns der Sonnenschein? Hochaufgetürmte Tage stürzen ein/unruhige Nächte – Gebet im Fegefeuer./ Wir lesen auch nicht mehr die Tagespost/ Nur manchmal lächeln wir still in die Kissen/ Weil wir alles wissen, und gerißen/Fliegen wir hin und her im Fieberfrost«, dichtet Emmy unter dem Titel »Morfin«. Höxter hängt an der Spritze, der Psychoanalytiker Otto Groß kokst bis zum Umfallen, und ein Bündnis junger Lyriker nennt sich »die Aethernisten«. Emmy Hennings verhelfen ihre »Aetherstrophen« immerhin zu einem ersten literarischen Erfolg. Unter diesem Titel will Kurt Wolff, der 1912 den Rowohlt Verlag übernimmt, einen Gedichband von ihr herausbringen. 1913 erscheint das Buch, auf Bitten der Autorin mit dem Titel »Die letzte Freude«.
Auf der Bühne hat sie weniger Glück. Nur eine Woche lang darf sie im vornehmen Berliner Lindencabaret gemeinsam mit Claire Waldoff auftreten, dann steigt sie ins billigere Bier-Cabaret in der Passage zwischen Friedrichstraße und Unter den Linden ab. Vier Jahre später werden ihr Auftritte zur Hauptattraktion des Cabaret Voltaire in Zürich, in dem unter anderem ihr künftiger Ehemann Hugo Ball, Richard Huelsenbeck und Hans Arp 1916 gemeinsam den Dadaismus erfinden. »Emmy Hennings wurde die Seele des Cabarets, ihre Couplets retteten uns vor dem Hungertode«, erinnert sich Huelsenbeck später, während die so Gelobte nüchtern notiert: »Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon.«
Nie hat sie in jenen Jahren etwas anderes gekannt als bittere Armut, oft gepaart mit Krankheit und dem Elend der Sucht. Einen ihrer vielen Entzüge macht sie 1914 im Gefängnis durch, wo sie wegen Beischlafdiebstahls einsitzt. Es scheint wie ein Wunder, daß in jenen wüsten Jahren, unter der Oberfläche eines hektischen erotischen Treibens, auch etwas wie Freundschaft möglich wird. Den zunehmend geistig verwirrten Hoddis betreut Emmy Hennings liebevoll und solidarisch, so lange es geht: »Ich war einfach das Kindermädchen oder eine Schwester, an die er sich klammerte, da er die geistige Umnachtung zu ahnen schien.«
Und daß Erich Mühsam sie im Knast besucht und ihr einen Anwalt besorgt, wird sie ihm nie vergessen: Als sie 1933 erfährt, daß Mühsam von der SA verhaftet ist, setzt sie vom Tessin aus Himmel und Erde in Bewegung, um ihm mit einem »Rufbrief« zur Ausreise in die Schweiz zu verhelfen. Flehentlich bittet sie ihren Nachbarn und Freund Hermann Hesse um Hilfe, doch der winkt ab. Schließlich fährt sie, um die Gefahr dieser Mission wissend, im April 1934 nach Berlin, um den Freund im KZ Oranienburg zu besuchen. Ob sie ihn noch einmal hat sehen können, ist nicht überliefert. Drei Monate später wird der Gefangene Mühsam ermordet. Johannes R. Becher, inzwischen aktives Mitglied der KPD, ist in der Nacht des Reichstagsbrandes aus Berlin geflohen. Bevor er in die Sowjetunion emigiert, fährt er noch einmal zu Emmy – die ehemalige Geliebte, inzwischen verwitwet, erscheint ihm jetzt »bald Greisin, bald junges Mädchen«.
Die Morphiumsucht hat sie igendwann überwunden. Dem Katholizismus, den sie 1911 zu ihrer Religion machte, bleibt sie lebenslang treu wie ihrer Leidenschaft für Alkohol, Tabak und Männer. »Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben, ich kann’s nicht« teilt sie Ninon Hesse 1928 mit. Und wenn sie, was häufig vorkommt, mit viel zu wenig Geld zu ausgedehnten Reisen aufbricht, dann legt sie Wert auf Unterkünfte „wo ich rauchen und sonst was darf“. Daß sie nach den Dada-Abenden in Zürich mit Hugo Ball vor einem Hausaltar mit naiven Heiligenbildchen niederkniet, daß Ball zum selben Zeitpunkt durch die Kantonspolizei der Zuhälterei und Gewalttätigkeit gegen seine Verlobte verdächtigt wird – das alles sind Facetten einer Existenz, in der nichts zusammenzupassen scheint und doch alles zusammengehört.
»Es ist ganz unmöglich, dies Leben auf eine rationale Formel zu bringen, versuchen Sie das lieber gar nicht«, schreibt Hesse, der die Freundin oft finanziell unterstützt hat, in einem Bittbrief an einen potentiellen Mäzen. »Ich bin so vielfach in den Nächten… « dichtete sie selbst, heute wäre man versucht, sie »multipel« zu nennen. Doch das ist nicht ihr Problem, sondern ihre Lösung: die Kunst eines Lebens, das eine Antwort auf die Möglichkeiten und Widersprüche der Moderne sucht.
Die verschiedenen Teile ihrer Existenz miteinander in Verbindung zu halten, gelang ihr dabei zumindest auf dem Papier. »Ich bilde mir ein, ich schicke nur die ein Hälfte auf die Straße. Aus ist’s mit der Einbildung. Jetzt bin ich genötigt einen ganzen Menschen in die Schildergasse zu schicken«, schreibt sie in »Das Brandmal. Ein Tagebuch«, das jetzt wieder bei Suhrkamp erschien.
Emmy Hennings starb 1948 im Tessin an den Folgen einer Lungenentzündung. Ihr Nachlaß wurde nach dem Tod ihrer Tochter ins Archiv der Züricher Carl-Seelig-Stiftung gebracht und dort ausgewertet. Bernhard Echte stellte die jetzt vorliegende Dokumentation und eine Ausstellung zusammen, die nach ihrer ersten Station in Zürick jetzt bis zum 1. August im Literaturhaus Berlin (Fasanenstraße 23) zu sehen ist. Im September geht die Ausstellung nach Flensburg, der Geburtsstadt, nach der Emmy Hennings ein Leben lang Heimweh hatte.
Das Katalogbuch »Emmy Hennings: Ich bin so vielfach … Texte, Dokumente, Bilder« ist im Stroemfeld Verlag/Roter Stern, Frankfurt am Main, erschienen.